Gedanken einer Ärztin

Heilung im übergeordneten Sinn

Die heutige Medizin mit ihren enormen Möglichkeiten und Technologien verführt die Menschen zur Annahme, alles sei machbar. Heilung besteht aus meiner Sicht als Ärztin jedoch nicht nur aus körperlicher Heilung, sondern insbesondere auch aus Heilung der Seele.

Wenn Menschen es schaffen, das Schicksal als Teil des eigenen Lebens anzunehmen, dann führt das zur Öffnung für Weiterentwicklung und verhindert Frustration und Hadern mit dem, was uns zur Bewältigung unseres Daseins aufgetragen wird: Das In sich gehen, das Suchen nach sich selbst, nach der eigenen Kraft, um wieder an den Ursprung der inneren Energie zu gelangen, die hilft, Schweres zu verarbeiten. Dazu gehört auch das Akzeptieren all der Dinge, die nicht zu ändern sind. Zugleich müssen Räume für Trauer und Wut geschaffen werden, denn aus dieser Trauer können Hoffnung und neue Lebensperspektive entstehen. Als Ärztin versuche ich Menschen in Situationen scheinbarer Aussichtslosigkeit eine neue Sinnfindung zu geben, auch wenn diese anfänglich oft schwer einzuordnen ist. In ihrem Buch »Plädoyer für die Seele« beschreibt die Autorin Angelika U. Reutter eindrücklich das Wissen, dass der Mensch eigentlich in sich trägt und was für seinen eigenen Entwicklungsweg notwendig ist. Verschüttet durch den Lärm unserer Zeit, kommt die Seele kaum mehr zu Wort. Und die Kräfte der Seele sind unermesslich, auch wenn der Körper krank ist.

Aus meiner Sicht sollte sich in Zukunft auch die Medizin öffnen, um neben den klassischen therapeutischen Möglichkeiten auch den ganzheitlichen Aspekt der Therapie nicht aus den Augen zu verlieren. Gibt es eine Heilung im übergeordneten Sinn? Dürfen wir Patienten, die unheilbar krank sind, im Stich lassen, nur weil keine Aussicht auf Heilung besteht? Die Ansätze einer ganzheitlichen Medizin werden im therapeutischen Denken von Angelika Reutter in einer Art und Weise aufgenommen, wie sie bisher kaum so beschrieben worden ist. Das »Plädoyer für die Seele« ist zugleich ein Plädoyer für das Leben, mit allem, was es uns anzubieten hat. Ein wunderbares Buch für alle, die einen übergeordneten Sinn des Lebens bejahen. Dazu gehört, dass man nie aufgibt, auch wenn die Situation noch so hoffnungslos erscheint. Jeder Mensch hat eine innere Stärke und die gilt es zu finden. Denn: Heilung im übergeordneten Sinn ist immer möglich, wenn man das Leben als Weg der permanenten Weiterentwicklung sieht, wo immer dieser Weg hinführt. Heilung ist möglich, wenn Hoffnung nicht aufgegeben wird und die Liebe zum Leben und zum eigenen Ich und zum Du neu gefunden werden kann.

Dr. med. Irene Bopp-Kistler
Leitende Ärztin Geriatrie
Waid-Spital, Zürich