Pfingsten – das Zukunftsfest der Inspiration

Horchen, was die Stunde schlägt, lauschen auf das, was uns dabei beflügelt. Diese kostbare Herzenserfahrung war und ist immer wieder neu. Dazu lädt uns 50 Tage nach Ostern ein Fest ein, das zu den ältesten Festen der Menschheit gehört.

«Für was brenne ich? Was sind meine Visionen? Oder wie kann ich mit einer schweren Lebenssituation umgehen?» Themen, die sich häufig der gewohnten Machbarkeit entziehen. Es sind Fragen, deren Antworten auf den schöpferischen Hintergrund aller Dinge angewiesen sind. Dazu lädt uns Pfingsten ein, damit wir den Heiligen, Heilenden Geist als eine erneuernde und Zukunft schaffende Kraft in den Alltag von uns Menschen integrieren können.

Wie soll man nun Heilung, den Heiligen Geist verstehen? Haben wir nicht andere Sorgen, als uns mit dem individuellen Heilwerden- und Sein zu beschäftigen, also Pfingsten zu feiern?

Der Streit über und um den Heiligen Geist - soll man an ihn glauben oder ihn abschaffen -, ist uralt. Schon im 9. Jahrhundert entbrannten heftige Auseinandersetzungen in der Ost- und Westkirche um die Existenz des Heiligen Geistes und führten zu deren Spaltung.

Diese Unsicherheit oder vielmehr die Suche nach Sicherheit, ob Christus ein kosmisches Wesen und wie der Heilige Geist einzuordnen sei, hat in der Kirchengeschichte immer wieder zu Beunruhigung und Turbulenzen geführt. Zum Beispiel sollte 869 auf dem 8. Ökumenischen Konzil in Konstantinopel Klarheit geschaffen werden, in dem sich westliche Theologen mit der Frage beschäftigten, ob der Mensch aus Leib, Seele und Geist oder nur aus Leib und Seele besteht. Sie etablierten das Dogma, den strittigen Heiligen Geist abzuschaffen und sprachen damit dem Menschen sein Geistwesen ab. Oder als Martin Luther 1580 in Dresden im grossen Katechismus seine Lehre des Heiligen Geistes verfasste, führte dies zu aufwühlenden Auseinandersetzungen, so dass sich die christlichen Konfessionen gegenseitig bekämpften.

Ein Dogma wirkt im Kollektiv der Menschen unbewusst weiter und führt dazu, dass moderne Entwicklungen von alten Vorstellungen beeinflusst bleiben. Dennoch - die uralten Weisheiten der Menschheit, sei es in den Religionen oder in westlicher oder östlicher Spiritualität, bleiben eine Kostbarkeit, aus der wir alle schöpfen können.

Eine solche Kostbarkeit ist die Dreigliederung - Körper, Seele, Geist, die im Christlichen der Trinität entspricht: Das göttlich-schöpferische Prinzip, der seelisch-geistige Christusimpuls und der Heilige Geist als Heilungsimpuls. Diese universelle geistige Gesetzmässigkeit kann in den verschiedenen Entwicklungsepochen in Frage gestellt, negiert oder gar durch ein Dogma abgeschafft werden, sie ist und bleibt dennoch eine verlässliche Wahrheit, die in den Herzen der Menschen eingeschrieben ist.

In diesem Sinne vervollständigt der Heilige Geist an Pfingsten das, was an Weihnachten mit der Neugeburt des Göttlichen im Menschen vorbereitet wurde und an Ostern mit dem inneren Bild der Auferstehung, des fortwährenden Werdens, im Zyklus der Jahresfeste begonnen hat.

Die Umwandlung und Bewusstseinserneuerung in der Innenwelt des Menschen durch den Heiligen Geist ist bei den Mystikern und den Weisheitslehrern der Menschheit unterschiedlichster Herkunft bemerkenswert übereinstimmend. Dies nicht, weil sie sich gegenseitig beeinflusst haben, sondern aufgrund vergleichbarer Erfahrungen, so dass sie zu vergleichbaren Ansichten gelangten. Eine dieser Weisheiten betrifft den Menschen und sein Verhältnis zur Gottheit und zum Heiligen Geist.

Die gemeinsame, universelle Verbindung der überlieferten Wahrheiten findet nicht im Aussen, sondern in der Innenwelt der Menschen statt: Es ist die Liebe, die grosszügig und freilassend das seelische Heilwerden initiiert. Die Liebe «heiligt» den Menschen. Auch deshalb, weil der Mensch das einzige Lebewesen ist, das bewusst Himmel und Erde in sich selbst zu verbinden vermag, wissend und in Demut respektierend, dass es keine Trennung zwischen ihm, den Tieren, Pflanzen, Meeren und der ganzen Schöpfung gibt.

Im frühen 9. Jahrhundert beschreibt es der Philosoph und Schriftsteller, Johannes Scottus Eriguena so: «In typischer Betrachtung bezeichnet auch die Quelle des Paradieses, welche sich in vier Hauptströme teilt, den Heiligen Geist, den kein Weiser leugnet. Aus dieser einen und unerschöpflichen Quelle fliessen die vier Hauptkräfte im Paradiese der vernünftigen Seele: Einsicht, Mässigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit, und aus diesen Strömen gehen wiederum als Rinnsale alle Tugenden hervor, um auf dem durch sie bewässerten und befruchteten Boden der menschlichen Natur sich zu zeigen.»

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Pfingsten entfacht im Menschen das Herzensfeuer, das hilft, von innen her, erstarrte Muster    aufzulösen, so dass sich der Blick auf die Welt und das Weltgeschehen verändert: Es ist ein Impuls, der im Menschen etwas Neues wachruft, etwas, was sich jetzt und in Zukunft entfalten will und soll.

Doch was soll geheilt werden? Im Griechischen heisst Krankheit «astehneia», Schwachheit und diese Schwäche der Seele soll mit dem himmlischen Heilmittel des Urvertrauens in die Entwicklung des Lebens gestärkt werden, so dass man fühlt, dass das eigene Schicksal «von wunderbaren Mächten geborgen», geführt und beschützt ist, wie es Dietrich Bonhoeffer beschreibt. Die Arznei für die Weite und Tiefe der seelisch-geistigen Entwicklung muss bewusst angenommen und eingenommen werden, denn bliebe sie in einer Schublade vergessen, könnte sie ihre Wirkung wohl kaum voll entfalten.

Damit Heilwerden in Seele und Geist geschehen kann, was nicht unbedingt mit physischer Gesundheit identisch ist, braucht es Erkenntnis und Bekenntnis zugleich. Erkenntnis befreit aus der Kausalität des nur intellektuellen Wissens. Dann neigt sich das Herz dem Denken zu und der Verstand wird durch Herzenswärme erhellt: Es ist, als würden sich Türen öffnen, die man zuvor gar nicht wahrgenommen hat und wie aus dem Nichts tauchen Wege auf, die bisher als unbegehbar galten. Man sieht das Leben in einem neuen Licht!

Das Erkannte zu begreifen und zu ergreifen führt in die bekennende Tat. Damit lösen sich die nebulösen Schatten, in denen sich Ängste versteckt halten, und sie verlieren ihre heimliche Macht. Die gewonnene innere Klarheit schafft Vertrauen, so dass man bereit wird, über die Brücken zu gehen, die man zuvor gemieden hat.

Als Sinnbild für Vertrauen, das uns den Boden unter die Füsse gibt und den Himmel an Pfingsten öffnet, ist der Frühling eine begnadete Zeit: Eine Zeit, in der die Erde die Hauptperson des schöpferischen Geschehens ist und eine Lebendigkeit entfaltet, die sich in der menschlichen Seele spiegelt.

Die Erde hat wie wir einen Leib, eine Seele und einen Geist. Alles Feste ist ihr Körper und in dem Flüssigen der rauschenden Bäche strömt das Leben. Die Luft ist ihr Atem, in dem die Seele lebt und die wärmenden Sonnenstrahlen sind das Geistige. So wie die Wärme zum Himmel aufsteigt und der Regen alles erblühen lasst, so erhebt sich unsere Seele mit ihrem Flügelschlag zum Himmel und erfüllt sich mit einem inneren Gleichgewicht, dem die fortwährende Gestaltung und Umgestaltung innewohnt. Das ist das Bild der Himmelfahrt.

Der Heilige Geist strömt zehn Tage, nachdem Christus den Augen der Jünger entschwunden ist, als eine himmlische Feuerkraft in ihre Seelen ein. In diesem Bild spüren wir, wie die menschliche Seele auf das Empfangen des Heilenden Geistes vorbereitet wird. Zunächst durch einen Verlust an gewohnter Sicherheit und innerem Halt, der Angst und Trauer auslösen kann. Etwas, das bisher als planbar und kontrollierbar galt, entschwindet ins Ungewisse. Es wird unsichtbar: Man «sieht» nicht mehr, wie es weiter gehen soll.

Und plötzlich - bei einem Spaziergang, im Gespräch mit einem geliebten Menschen oder auch in einem stillen Moment - fällt einem etwas Besonderes zu. Mit überzeugender Leichtigkeit fasst man den Entschluss, die neue Idee weiter auszuarbeiten und Mittel und Wege zu finden, sie umzusetzen.

Es ist nicht der Zauber der Magie, sondern das reale Ereignis einer Inspiration, die den Menschen beflügelt und das Gefühl vermittelt «heil und ganz» zu sein. Der gestärkte Wille motiviert dazu, die empfangene Vision in die Tat umzusetzen. Die Liebe zum Leben erfüllt den inneren Auftrag der Mitmenschlichkeit und erweckt das Verantwortungsbewusstsein für das Heilwerden des Planeten Erde. Deshalb wird der Heilige Geist auch als mütterliches, nährendes Prinzip wahrgenommen. Denn »Grau mein Freund ist alle Theorie und Grün des Lebens goldener Baum», wie es J.W. Goethe im «Faust» erzählt.

So ist Pfingsten keine veraltete Theorie, sondern ein aktuelles Fest, das zur heilenden Begegnung mit dem Leben einlädt, sei es mit der Schönheit der Natur, mit zugewandten Menschen oder auch mit schweren Lebenssituationen, die hoffnungslos erscheinen. Denn jede   Begegnung, die das Herz berührt, birgt in sich ein unsichtbares Ereignis: Erst in und mit der Zeit offenbart es sich. Irgendwann, eines nahen oder fernen Tages, kann man es bewusster verstehen, seelisch ergreifen und in den eigenen Schicksalsweg einordnen. Mit wachsender Wahrnehmung erschliesst sich der tiefere Sinn und der daraus entstehende Zuwachs an Kraft und innerer Standfestigkeit.

Wahrhaftige Begegnungen schliessen eine «Lücke» in der eigenen Biografie: Welch ein Glück! Im Wort selbst findet man die tiefere Bedeutung von Glück: Die Vorsilbe «ge» steht für «gebündelt», «lück» für die Lücke, die man vielleicht bisher nicht wahrhaben wollte.

In diesem Sinn ist der Heilige Geist ein grosses Glück, denn im individuellen Seelenleben wird ein Bewusstseinsfunke entfacht, der die unbewusste Trennung zwischen Himmel und Erde aufhebt. Dies wird deutlich im Wunder des dreifachen Pfingstereignisses: Wenn der Sturm hereinbraust, erwachen die Seelen der noch schlafenden Jünger, ihre Gedanken werden befreit, so dass ein höheres Ich-Bewusstsein ihre Seelen erfüllt. Dann folgt das Wunder der Sprache, die heilende Kraft der Worte, im Gleichnis des Sprachengewirrs zu Babylon. Und schliesslich die feurigen Flammen, die das Herz befreien, so dass die durchwärmte Seele die ordnende Kraft des Heiligen Geistes aufnehmen kann.

Betrachten wir uns als einen Mikrokosmos, der im Innern findet, was im Aussen wirkt, so geben wir der uralten Weisheit des Heilwerdens ein individuelles, zeitgemässes Gewand. Denn es ist an uns, die seelisch-geistige Kraft und Güte, die durch die Pfingstflamme erzeugt wird, in uns zu erfahren und für die heutige Zeit zu übersetzen und weiter zu geben.

Gesegnete Pfingsten wünscht Ihnen/Euch,

Angelika U. Reutter / Pfingsten 2021