Wie können wir mehr Menschsein wagen für das, was werden will…

In aufrüttelnden Lebensphasen, wie sie 2020 die Menschen überall auf der Welt betreffen, stellen sich bedeutungsvolle Fragen: Wie kann es gelingen, eine sinngebende Zukunft zu gestalten? Ganz persönlich: Was ist das wahrhaft Bedeutende in meinem Leben? Und was bin ich bereit, bedingungslos freizulassen?

Bei diesen Überlegungen zeigt es sich deutlich, dass wir selbst die Befragten sind: Das Leben stellt die Fragen an uns und wir sind die, die zu antworten, zu verantworten haben, wie wir und auf was wir unser Denken, Fühlen und Wollen ausrichten. Denn: Menschsein ist tatsächlich ein Wagnis, eine Entdeckungsreise, die in die eigene Innenwelt führt. Dort, in der Seele beginnt das grosse Abenteuer der Selbsterkenntnis. Die suggestiv wirkenden Überzeugungen, die unser tieferes Wesen zurückdrängen, zeigen sich und können erkannt werden. Dadurch werden wir bewusster und beginnen, uns und die anderen besser zu verstehen. Dies tun zu können ist keine Leistung, kein Aktivismus, sondern eine Fähigkeit des Herzens, sich auf das Wesentliche einzulassen.

Diese Tatsache könnte uns mit Ehrfurcht erfüllen. Das Wort ist in sich geheimnisvoll, denn es beinhaltet die Furcht und die Ehre. Dies erinnert an den Engel, der uns im Lukasevangelium (Lukas 2)10) zuruft: «Fürchtet Euch nicht! Denn siehe, ich bringe Euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird.»
Werden wir uns dieser Furcht gewahr, schrecken wir nicht mehr vor dem zurück, was grösser ist als wir selbst. Es ist so, als würden wir den Rubikon überqueren und neue Lebensräume betreten. Andachtsvoll öffnet sich ein innerer, unantastbarer Raum, in dem uns eine Erkenntnis berührt: Die Furcht hat uns mutig werden lassen, sodass wir bereit werden, uns der eigenen, inneren Wahrheit zu stellen – was bedeutet, ein Stück Himmel auf die Erde zu holen.

Das weiss unsere Seele seit Urzeiten und sie spürt es im lichten und beschützenden Flügelschlag des Engels, der sie seit langer Zeit begleitet. Die Seele möchte ihre Flügel ausbreiten und wartet darauf, dass wir aufwachen und erkennen, was sie uns zuflüstert. Einer ihrer Flügel trägt die Vergangenheit des Menschen; in der Mitte ist das Herz der Gegenwärtigkeit und der andere Flügel weist in die Zukunft.  In diesem Dreiklang – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – entfaltet sich die Entwicklung des Lebens.
Der linke Flügel trägt die Vergangenheit, darin sind die Höhen und Tiefen des Lebens eingeschrieben. Sie sind wie feine Zeichnungen oder gar Narben, die uns das Schicksal zugefügt hat: Erfolge, Scheitern, Fehler, die sich als wichtige Erfahrungen gezeigt haben; Ängste, Zweifel, Unsicherheit, Versuchung, Krankheit und Tod.  

Das gelebte Leben braucht Verständnis. Denn die Lebenserfahrungen mit allen Ecken und Kanten sind ein grosser Schatz. Selbst wenn man überzeugt ist, das Beste und Schönste des Lebens verpasst zu haben oder die Schwere des Daseins grosse Schatten geworfen hat: Tatsache ist, es ist mein einzigartiges Leben. Es ist das, was ich geworden bin. Die tiefere Empfindung eröffnet sich wie von selbst: Das Leben ist eine universelle, heilig-heilende Schöpfung, in die die ganze Menschheit eingebettet ist.

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Die Würdigung der Vergangenheit verbindet uns mit der Stimme des Herzens, die Wärme und Lebendigkeit in unseren Alltag bringt. Es ist die Seele, die uns die Grenzen der Machbarkeit aufzeigt. Die Polarisierung von «Gut und Böse» zieht Viele in den Bann und weckt den Kampfgeist: Dafür oder Dagegen! Doch diese Art der Empörung, auch wenn sie positive Absichten verfolgt, läuft Gefahr, zu scheitern. Es gibt eine andere Art, die Augen nicht vor den Tatsachen zu verschliessen: Wahrnehmen, was ist; beobachten, was geschieht, sich nicht mit der «Kampfarena« identifizieren und bei sich selbst bleiben. Es entwickelt sich eine objektive Gelassenheit, ein innerer Raum, in dem die Intuition wirksam werden kann.

Diese Kraft sinkt in die Gegenwart des Herzens. Sie fliesst nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Und wo immer ich heute angekommen bin: Es ist an mir dieses Leben zu würdigen, diese Lebenskraft, die mir geschenkt wurde, um in der Gegenwart, in diesem Moment in meiner Seele aufzuwachen. Dann öffnet sich das Herz, es pocht im Rhythmus des Lebens und bringt das Jetzige ins Fliesen. Aus der Bewusstheit der Gedanken entfaltet sich ein Selbstbewusstsein, das mit Herzenswärme, mit Liebe und Willen entscheidet. Es ist, als würde das Herz grosse Ohren bekommen und so intensiv lauschen, wie es wohl die Vögel tun, wenn sie auf die Melodien ihrer Artgenossen antworten.

Wir lernen, so aufmerksam zuzuhören und zu schweigen, dass der andere Mensch sich nicht nur erkannt fühlt, sondern auch für seine Fragen an das Leben eigene, einzigartige und fantasievolle Antworten findet. Antworten, die sich nicht mehr auf die Erfahrungen der Vergangenheit abstützen müssen, sondern mit eigenständiger Sicherheit Neues, Mutiges, unmöglich Erscheinendes hervorbringen. Es ist wie ein Gedicht, das von dem erzählt, was ist. Poesie verbraucht nicht, sondern sie gibt. Sie lässt uns in das Mysterium des Lebens eintauchen und weiss, dass wir dies jederzeit in uns auferstehen lassen können.

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Das zur Zeit alles bestimmende materialistische Menschenbild ist an einem Virus erkrankt. Das Heilige, Heilende, Göttliche und das Menschsein ist die Arznei, die uns ermutigt, individuell und gemeinschaftlich auf eine herzmutige Art und Weise Zukunft zu schaffen. Eine Zukunft, in der das einseitige Kosten-Nutzen-System verblasst und eine seelisch-geistig getragene Mitmenschlichkeit visionäre Möglichkeiten erschliesst, die wir schon heute in zahlreichen Initiativen in allen Teilen der Welt wertschätzen können.  

Es könnte sein, dass uns die legendäre Gestalt der Alchemie, Maria Prophetissa mit ihrem Axiom für das kommende Neue Jahr einen Hinweis gibt. «Die Eins wird zu Zwei, die Zwei zu Drei und aus dem Dritten wird das Eine als Viertes». Die Zahl Zwei ist dem Zweifel zugeordnet, der Zweiheit, die in die notwendige Polarität führt, in die Auseinandersetzung, in die Reibung, in den Konflikt. 2020 hat sich die Zwei verdoppelt und birgt bereits in der Addition die Vier in sich. Die zwei Nullpunkte werden im Neuen Jahr durch die 1 erlöst. Der polarisierende Takt «Eins-Zwei; Eins-Zwei» wird durch die Drei erlöst: 2-0-2-1. Und es könnte sein, dass wir den Neubeginn – ein Geheimnis, das jedes Neue Jahr in sich trägt – ganz besonders nutzen, um die Sinnfragen ernsthaft und voller Freude in sich selbst und im eigenen Lebensumfeld wirksam werden zu lassen.

Mit Zuvertrauen und Zuversicht gehen wir auf die Zukunft zu und bauen die Brücke zwischen Himmel und Erde. Im Bewusstsein, dass wir diese Verbindung zu verantworten haben, gestalten wir das neue WIR einer tragfähigen Seelenkultur der Mitmenschlichkeit. Dafür benötigen wir die Kraft der Seele, die das göttlich-Geistige leuchten lässt.  Die Mitmenschlichkeit beginnt vor der eigenen Haustüre – Hier und Heute.
Wenn nicht jetzt – wann dann?

Ein beflügeltes Neues Jahr wünscht Ihnen/Euch,

Angelika U. Reutter
Im Dezember 2020